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Da wir Familie nicht wählen, sondern einfach haben, treffen wir in ihr auch auf Personen, die vielleicht gänzlich andere Ansichten vertreten als wir selber.

In einer Zeit von Echokammern und Filterblasen kann Familie da eine wunderbare Chance zur Horizonterweiterung sein.

Barbara Bleisch

Heute geht es um die Frage: Wie kann eine langfristige Beziehung zu unseren Kindern gelingen? Dazu gibt es ungeheuer viele Bücher von schlauen Menschen mit vielen Ideen und Tipps. Ich schreibe hier als Mutter von schon erwachsenen Kindern. Und ich gebe zu: Meine Bilanz ist durchwachsen. Wie die meisten Eltern habe ich/ haben wir „es doch nur gut gemeint und getan, was wir konnten. Und genau das kann leider verdammt falsch gewesen sein„, sagt die Schweizer Psychotherapeutin Katharina Ley. Denn auch bei uns hat es Verletzungen und Kränkungen gegeben, die von uns Eltern nicht beabsichtigt, für unsere Kinder aber prägend waren.

Max Frisch sagte einmal, wir sollten einander „die Wahrheit wie einen offenen Mantel hinhalten, nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“ Auch in unserer Familie gab es oft zu viele nasse Tücher und zu wenige offene Mäntel. Dabei war es uns immer das Wichtigste, eine Beziehung zu unseren Kindern zu haben. Sie sollte der Boden sein, in dem sie wurzeln können. Sie sollte sie auf ihrem Weg unterstützen, nähren und wachsen lassen. Unsere Beziehung sollte eine Kraftquelle für unsere Kinder – und eines Tages auch für ihre Kinder – sein.

Barbara Bleisch nennt die Familie ein „geistiges Trainingslabor“.Da wir Familie nicht wählen, sondern einfach haben, treffen wir in ihr auch auf Personen, die vielleicht gänzlich andere Ansichten vertreten als wir selber. In einer Zeit von Echokammern und Filterblasen kann Familie da eine wunderbare Chance zur Horizonterweiterung sein.“ Wenn wir davon ausgehen, dass das Ziel des Menschseins geistiges Wachstum und Bewusstseinsentwicklung ist, dann ist das sicherlich eine positive Sicht. Aber in diesem Trainingslabor, das von Liebe, Freundschaft und Zuneigung geprägt sein sollte, kommt es auch oft zu Enttäuschung, Verletzung  und Kränkung. Warum?

Der Grund liegt darin, dass wir nur ein Glied in einer langen Kette sind, die sich durch die Jahrtausende zieht. Von Generation zu Generation werden nicht nur Liebe, Freundschaft, Zuneigung von Eltern zu Kindern weitergegeben, sondern wir tragen alle auch die Angst, die Einsamkeit oder die Verbitterung unserer Vorfahren in uns.

Wir haben fast alle eine Art kontinuierliches Geplapper im Kopf, einen Kommentar, an den wir so gewöhnt sind, dass wir ihn gar nicht mehr richtig wahrnehmen. Aber diese Stimme kann eine harte innere Kritikerin oder ein harter innerer Kritiker sein. Vielleicht sagen Sie sich Dinge wie: „Das ist nichts für Leute wie mich“ oder „Man kann niemandem trauen“, „Ich krieg überhaupt nichts hin“, „Ich bin nie gut genug, ich sollte einfach aufgeben“, „Ich kann nichts richtig machen“, „Ich bin zu fett“ oder „Ich bin nutzlos“. (Philippa Perry)

Diese innere Stimme ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir fest davon überzeugt sind, in der alltäglichen Kommunikation mit unserem Partner/ unserer Partnerin/ unseren Kindern auf das zu reagieren, was sich im Moment vor uns abspielt. Wir können uns nicht vorstellen, dass unsere Gefühle (die Wut, Angst, Sorge…) schlicht und einfach eine Reaktion auf das sind, was uns selbst in der Vergangenheit passiert ist. Wir können uns nicht vorstellen, dass wir unsere Ängste, unsere unerfüllten Träume und unsere Ideale, unsere eigene Unsicherheit oder auch unser fehlendes Selbstbewusstsein auf unsere Kinder projizieren. Aber so ist es.

Es ist schwer, sich dieser Tatsache zu stellen und die Behandlung, die wir selbst erfahren haben und die unsere innere Stimme repräsentiert, nicht an die nächste Generation weiterzugeben. Deshalb müssen wir lernen, unsere Gefühle zu hinterfragen:

  • Gehört dieses Gefühl wirklich zu dieser Situation?
  • Gehört dieses Gefühl jetzt, in der Gegenwart, zu meinem Kind (zu meinem Partner)?
  • Wie sieht die Situation aus der Perspektive meines Kindes (meines Partners) aus?
  • Wie oft bin ich wütend, empört, panisch, selbstgerecht oder vielleicht beschämt, voller Selbstzweifel oder Selbsthass und nicht einfühlsam und es hat eigentlich nichts mit der aktuellen Situation zu tun?

Wenn man darüber nachdenkt, macht das betroffen, oder? Aber: Es ist nie zu spät, den Autopiloten abzuschalten und neu anzufangen, auch wenn die Kinder schon erwachsen sind. Was braucht es dazu?

  • Wir müssen Verantwortung übernehmen für die Fehler der Vergangenheit.
  • Und obwohl auch die Kinder das Gesamtbild in den Blick nehmen müssen, schulden sie uns Eltern nichts, denn sie sind nicht unser „Gemächsel“ (Kant).
  • Wir Eltern lassen die Kinder in Ruhe, mischen uns nicht in ihr Leben ein oder geben ihnen unerwünschte Ratschläge.
  • Wir respektieren ihre Gefühle, ihre Person, ihre Meinungen und ihre Deutung der Welt und wir ermutigen sie, das anzustreben, was sie sich erhoffen und erträumen.
  • Wir glauben an unsere Kinder und wir möchten ein Hafen sein für sie, wenn sie Beistand und Trost brauchen. Die Lösungen und Antworten ihres Lebens müssen sie selbst finden, den Weg müssen sie selber gehen, dabei können wir ihnen nicht helfen.
  • Aber wir können unseren Kindern die Beziehung bieten, die ihnen hilft, wieder auf Kurs zu kommen, wenn die Stürme des Lebens sie abdriften lassen.

Denn „das Erstaunliche ist: Trotz aller Fehler, die wir machen, trotz all der Liebe, die wir zurückhalten, statt sie unseren Kindern zu geben, trotz all der Wut, mit der wir ihnen begegnen, all den Situationen, in denen wir sie zur Eile drängen, uns vor ihnen verstecken, nicht für sie da sind, ihnen nicht vertrauen, wenn wir es sollten, uns weigern, die Dinge von ihrem Standpunkt aus zu sehen, uns übermäßig identifizieren und mit ihnen verschmelzen und ihnen nicht erlauben, sich von uns zu lösen, oder zu viel von ihnen verlangen – trotz allem sind wir noch immer mit ihnen verbunden und sie mit uns.“ (Philippa Perry)

Buchtipp

Barbara Bleisch: Warum wir unseren Eltern nichts schulden.

Philippa Perry: Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen.

Literaturtipp

Dazu findest du in der LeseWerkstatt auch drei Geschichten, die diese Thematik aus verschiedenen Perspektiven beleuchten.

>>> Clown, Maurer oder Dichter

>>> Fünfzehn

>>> Die Botschaft


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