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oder

was der Impfstatus eines Menschen mit der Qualität literarischer Texte zu tun hat.

(Jan David Zimmermann)

Ingeborg Bachmann war neben Rilke DIE Dichterin, die mich schon im Gymnasium faszinierte. Damals verstand ich das meiste überhaupt nicht, aber auf einer wortlosen, mythischen Ebene klangen ihre Worte und Bilder in meiner Seele nach.

Wie Musik. Nicht fassbar. Magisch.

Ingeborg Bachmann gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Prosaschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie wurde in Klagenfurt geboren, deshalb wird dort auch seit 1977 jährlich der Ingeborg-Bachmann-Preis ihr zu Ehren verliehen.

Die aktuellen COVID-Bestimmungen machen auch vor diesem prestigeträchtigen Event nicht halt.

„Nach derzeitigem Stand der CoV-Situation ist es noch offen, ob Publikum zur Veranstaltung zugelassen werden kann.(...) Um den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung zu gewährleisten, können  nur Vollimmunisierte mit aktuellem Test daran teilnehmen.“

Wir leben in einer Zeit des Aufbruchs, des Zurücklassens des Gewohnten. Vollimmunisierte mit zusätzlich aktuellem Test? Was jahrzehntelang „normal“ war, ist es jetzt auf einmal nicht mehr. Wir leben in einer Schwellenzeit. Dazu passt eines der berühmtesten Gedichte Bachmanns.

Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Die Geliebte, die Hunde, die Fische, sogar das Licht, alles muss gelöscht bzw. losgelassen werden. Denn: Es kommen härtere Tage .

Oder sind sie schon längst hier? – Wer weiß.

Der Schriftsteller Jan David Zimmermann sieht sie definitiv schon hier und verortet sie vor allem auch in der Diskriminierung, Hate-Speech und dem Hass im Netz.

In einem offenen Brief an die Organisatoren des Bachmann-Preises erklärt er:

Die Literatur und öffentliche Personen aus dem Literaturbetrieb hätten in den letzten zwei Jahren insbesondere die Aufgabe gehabt, die massive sprachliche Eskalation zu thematisieren, die vonseiten der Politik, vonseiten etablierter Medien forciert und schließlich von Teilen der Bevölkerung unkritisch übernommen wurde.

Und Zimmermann ruft seinen Schriftstellerkollegen, die am heurigen Bachmann-Wettbewerb teilnehmen, die berühmten Worte Bachmanns zur Aufgabe des Schriftstellers in Erinnerung:

„So kann es auch nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein, den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über ihn hinwegzutäuschen. Er muss ihn – im Gegenteil wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime  Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere  für die der Wahrheit.“

Ja. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.

Sie muss nur von den Schriftstellern ausgesprochen werden. Wer sollte sie auch sonst aussprechen? Die Medien, die von der Politik bezahlt werden? Nein, es ist die Aufgabe der Schriftsteller, den Schmerz, die Diffamierung, das Unrecht, die Ausgrenzung beim Namen zu nennen und sie für ALLE fühlbar zu machen.

Wider das Vergessen!

Kategorien: Gesellschaft