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Was macht den Menschen zum Menschen? Humanität? Mitgefühl? Gerechtigkeitssinn?…

Immer schon haben sich Philosophen Gedanken darüber gemacht, was denn den Menschen zum Menschen mache. Ein Schlagwort, dass dabei genannt wird, ist die Humanität. Johann Gottfried von Herder, der zu einer Zeit lebte, als das Thema noch breiter diskutiert wurde, meint in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität (1794):

„Humanität ist der Charakter unsers Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muss uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein.“

Humanität ist uns nach Herder also grundsätzlich allen angeboren, wir müssen sie aber entwickeln und bilden und sie dann in der Welt auch leben. Denn sie definiert unseren Wert als Mensch.

So ähnlich sieht es auch Wilhelm Wundt, der 1879 in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie gründete. Er nennt Humanität eine Idee, die Menschen instinktiv in guten Taten ausdrücken. Allerdings müsse sich der Mensch die Humanität sein Leben lang bewusst erarbeiten, an immer neuen Herausforderungen. Humanität ist also nicht etwas, was ich einmal gelernt und entwickelt habe, sondern was ich immer wieder aufs Neue an den auftauchenden Themen in der Welt beweisen muss:

Die Idee der Humanität, einst in den Gestaltungen persönlichen Wohlwollens mehr instinktiv geübt als klar erfasst, hat erst in dem Bewusstsein eines Gesamtlebens der Menschheit, das fortan in der Geschichte sittliche Aufgaben löst, damit ihm neue gestellt werden, ihr eigentliches Objekt sich geschaffen.

Und da lernt der Mensch offensichtlich nichts dazu. Da versagt die gesamte Schulbildung, da versagt die Ausbildung unserer Lehrer, da versagen unsere „aufgeklärten“ Gesellschaften.

Wir entwickeln uns zurück zu primitiven Schwarz-Weiß-Gesellschaften. Mittelalterlich? Eigenes kritisches Denken wird abgelöst durch Obrigkeits- und Mediengehorsam. Welche Medien „gut“ sind und „richtig“ berichten, wird von denselben Medien definiert. Anstatt Fake News mit Fakten zu widerlegen, werden Kanäle in diktatorischer Manier einfach stillgelegt – angeblich um die (dumme, verdummte?) Bevölkerung zu schützen. Die „guten“ Menschen lassen es sich gefallen (aus Bequemlichkeit?), dass ihnen kein eigener Verstand, keine eigene Urteilskraft mehr zugetraut wird.

Aber so wie Herder es oben schon sagt: Ohne eigenes Bestreben, ohne eigene Übungen, entwickeln wir auch nicht unseren menschlichen Charakter. Ohne Anstrengung, kein Lohn.

Liberté, Egalité, Fraternité

Das sollte der Lohn sein und die Garantie, dass NIE MEHR KRIEG sei. Im Moment wird alles mit Füßen getreten – und wir sehen es nicht. Die Politik marschiert ein, es wird agiert und reagiert und weil es so nah an Zuhause ist, ist man betroffen.

Am Ende gibt es wieder nur zwei große Verlierer:

Die Wahrheit und die Menschen.

Leider wird die Wahrheit (falls überhaupt) erst immer nur aus der Distanz der Jahre sichtbar. Das zeigt ein sehr berührender Text einer 16-jährigen Schülerin aus dem Iran, der uns alle zum Nachdenken bringen sollte:

„Als der Krieg kam, erhielt die Inhumanität, die in uns war, freien Lauf.“

(A.Schweitzer)

von P. D.

Das Brummen wird immer lauter und bedrohlicher. Schüsse sind aus jeder Richtung zu hören. Mehran läuft um sein Leben. Er ist mein Onkel, der jüngerer Bruder meines Vaters. Das Maschinengewehr  schießt pausenlos, doch mein Onkel hat Glück, er kann sich rechtzeitig außer Gefahr bringen.

Alles beginnt vor 42 Jahren, als der irakische Diktator Saddam Hussein dem Iran den Krieg erklärt. Man nennt ihn heute den ersten Golfkrieg. Er dauert vom 22. September 1980 bis zum 20. August 1988. 

Der Irak ist bis zur Revolution 1958 eine Monarchie. Das politische System wird zunehmend diktatorisch. Es folgen verschiedene Putschversuche, die 1968 in die Übernahme der Macht durch die Interner Baath-Partei münden. 1979 wird Saddam Hussein Präsident. Um an der Macht zu bleiben, geht er zunächst gegen den innerparteilichen Widerstand vor und lässt zahlreiche führende Parteimitglieder hinrichten. 

Zu der Zeit regiert im Iran seit 1941 Schah Mohammad Reza Pahlavi als Alleinherrscher. Ab 1978 kommt es immer wieder zu landesweiten Massenprotesten und Streiks, die den König am 16. Januar 1979 zur Flucht ins Ausland bewegen. Als Anführer der Opposition kehrt daraufhin der religiöse Führer Ayatollah Ruhollah Khomeini aus dem Exil zurück. In den folgenden Machtkämpfen kann er sich selbst zum religiösen Anführer mit Vollmacht machen. Nach dem von ihm entwickelten religiös-politischen Konzept der „Herrschaft des islamischen Rechtsgelehrten“ kommt ihm unter anderem die Kompetenz zu, den Präsidenten abzusetzen und die Spitzen von Judikative, Militär und Sicherheitskräften zu benennen. Khomeini und seine Anhänger islamisieren das Justizwesen, die Schulen und Hochschulen. Kritiker und Gegner der Regierung wie die Volksmojahedin, die mit Terroranschlägen versuchen, das Regime zu stürzen, werden verhaftet, gefoltert und ermordet. Diesen Prozess nennt man heute die Islamische Revolution. Sie gilt als einer der Hauptfaktoren, die den Krieg auslösen. 

Wie bei jedem Krieg, gibt es jedoch immer mehrere verschiedene Ursachen. In der Auseinandersetzung zwischen dem Iran und dem Irak geht es vor allem auch um territoriale Konflikte: Man streitet  über die Herrschaft in der Region um den Grenzfluss Schatt al-Arab und die erdölreiche iranische Provinz Khuzestan. Saddam Hussein genießt die Unterstützung vieler Staaten, darunter der USA, die hoffen, mit Hilfe des Iraks die Islamischen Revolution im Iran vertreiben zu können.  

Am 22. September 1980 gegen 14 Uhr beginnt der Krieg.

Die Detonationen sind ohrenbetäubend laut. Die Jets fliegen Tag und Nacht. Mein Großvater ist bei der Luftwaffe und arbeitet am Stützpunkt im Persischen Golf. Er ist Radarspezialist und Oberkommandeur. Aufgrund der pausenlosen  Bombendetonationen erleidet er einen permanenten Gehörschaden und ist seitdem fast taub.

Irakische Jets attackieren Fliegerhorste in fünf iranischen Städten, einschließlich der Hauptstadt Teheran. Die irakische Armee rückt mit 100.000 Mann und mit 1500 Panzern über den Grenzfluss Schatt-al-Arab nach Osten auf iranisches Territorium vor und besetzt gleichzeitig mit ebenso vielen Soldaten an drei Stellen die erdöl- und erdgasreiche Provinz Chuzestan.

Die Iranischen Truppen, unter ihnen mein Opa,  müssen alle zurückweichen. Mein Großvater ist er der Einzige, der die Kiste voller Munition mitnimmt, damit sie nicht in die Hände des Feindes fällt. Bis zum nächsten Stützpunkt ist der Weg weit und mein Opa ist ganz allein. Die staubige Straße vor ihm scheint kein Ende zu nehmen. Als er endlich im Lager ankommt, kann er seine Beine nicht mehr spüren und nicht mehr bewegen.  

Während der Irak offen unter anderem von Saudi-Arabien und Kuwait finanziert und von den USA, der Sowjetunion, Saudi-Arabien und vielen europäischen Ländern, darunter auch die Bundesrepublik Deutschand, mit Waffen versorgt und taktisch unterstützt wird, hat der Iran nur Syrien und Libyen als Verbündete. Doch der Iran verfügt über ungleich höhere menschliche Ressourcen. 

Jugendliche im Schulalter werden rekrutiert und als menschliche „Minenräumer“ an die Front geschickt. Das Regime verspricht den Eltern Anerkennung und finanzielle Unterstützung, falls ihre Kinder im Kampf als „Märtyrer“ sterben. Am 10. November 1980 ändert dann die Tat eines Kindersoldaten die strategische Lage: Der hilflose etwa zwölfjährige Kriegsfreiwillige Mohammad Hossein Fahmideh, der bereits verwundet ist, schnallt sich einen Gurt mit Handgranaten um, wirft sich nahe Chorramschahr unter einen irakischen Panzer und zieht die Zünder.

Für die Mullahs ist diese spontane Tat ein Geschenk und sie stellen Fahmideh als Vorbild hin. Seine Aktion wird zum Modell für weitere Selbstmordangriffe. Straßen und Gebäude werden nach ihm benannt, 1986 erscheint erstmals eine Gedenkbriefmarke. „Ich preise jenen zwölfjährigen Helden, der sich Handgranaten um den Leib band und sich unter die Panzer des Teufels Saddam warf“, verkündet Khomenei.

Bald gibt es ähnliche Selbstmordangriffe von Jugendlichen, übrigens nicht nur von Jungen, sondern auch von Mädchen. Die iranische Führung macht daraus ein Konzept, das erstmals zwei Jahre nach Kriegsbeginn eingesetzt wird. Nahe der Stadt Mandali schicken sie unbewaffnete Kindersoldaten vor den eigenen Kämpfern gegen die irakischen Stellungen. Die meisten von ihnen sterben in Minenfeldern oder im feindlichen Feuer, allein am ersten Tag sollen es 4000 Tote gewesen sein. Die massenhaften Selbstmordangriffe religiös aufgehetzter Jugendlicher sind die wesentliche neue Dimension des ersten Golfkrieges. 

Dadurch gelingt dem Iran eine erfolgreiche Gegenoffensive und die Vertreibung irakischer Truppen. Als kurdische Kämpfer mit iranischer Unterstützung im Norden des Landes aktiv werden, ist das der Punkt, an dem ein Tabubruch stattfindet: Der Irak beginnt mit dem Einsatz von international verbannten biologischen und chemischen Kampfstoffen. 

Mein Onkel Mehran ist zu dieser Zeit ein 23 Jahre alter Pädagogikstudent. Er hat sich freiwillig als Soldat gemeldet, um seinem Land zu dienen. Am 16. März 1988 verliert mein Onkel sein Leben, als Saddam Hussein über der nordostirakischen Stadt Halabdscha Giftgas abwerfen lässt. Mit ihm kommen 5000 Zivilisten bei dieser Attacke um. Durch seinen Tod wird mein Onkel zum Märtyrer. Im Iran bedeutet das, dass die Familie geehrt wird. So gewährt der Staat der Familie meines Vaters, kostenfreies Studieren und Bevorzugung bei Aufnahmeprüfungen an der Universität. Zur selben Zeit erfährt mein Vater, dass ein Freund durch einen Bombenangriff beide Beine verloren hat und sein ganzes Leben im Rollstuhl verbringen muss. 

Der Krieg eskaliert zunehmend und Bombardierungen von Raffinerien und Verladestationen sollen auf beiden Seiten den Gegner auch wirtschaftlich schwächen. Für die Bevölkerung bedeutet das: Hunger. Meine Großmutter bekommt für ihre 6-köpfige Familie höchstens ein halbes Kilo Zucker und nur 1-2 Kilo Fleisch im Monat. Nur am Schwarzmarkt kann man sich mehr besorgen, allerdings zu horrenden Preisen, die sich nur reiche Leute leisten können.

Diese Wirtschaftskrise und die politische Isolation des Iran sowie militärische Erfolge des Irak bringen Khomeini letztlich dazu, die vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete Waffenstillstandsresolution 598 zu akzeptieren. Damit endet am 20. August 1988 der Erste Golfkrieg – ein Friedensvertrag wird aber bis heute nicht unterzeichnet.

Und was hat dieser Krieg gebracht?

80.000 Perser leiden immer noch unter den Spätfolgen der irakischen Nervengasangriffe, 100.000 Zivilisten müssen ihr Leben lassen. Insgesamt kommen bis zu einer Million Menschen ums Leben, zu denen auch mein Onkel zählt. Von 13 Freunden meines Vaters überleben zwei. Traumatisiert. Mehr tot als lebendig.


Zum Weiterlesen:

Medien als Kriegswaffe: Eine Analyse der amerikanischen Militärpropaganda im Irak-Krieg

Kategorien: Gesellschaft