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Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen, Erwachsenen, damit sie aufwachen. (Jorge Bucay)

»Ich gehe einen einsamen Weg. Ich genieße die frische Luft, die Sonne, die Vögel und das gute Gefühl, dass mich meine Füße dahin tragen, wohin sie wollen.

Am Wegesrand liegt ein schlafender Sklave. Ich trete an ihn heran und bemerke, dass er träumt. Aus seinen Worten und Gesten schließe ich … dass ich weiß, was er träumt: Der Sklave träumt davon, frei zu sein.

Sein Gesicht spiegelt Ruhe und Frieden. Ich frage mich: Soll ich ihn wecken und ihm zeigen, dass es nur ein Traum ist, damit er weiß, dass er immer noch Sklave ist? Oder soll ich ihn schlafen lassen, solang er kann, und ihn – wenn auch nur im Traum – seine imaginierte Realität genießen lassen?«

Jorge Bucay: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte, Fischer, 21.Aufl. 2022, S.224

Träumen oder aufwachen? Auf diese Frage muss jeder Mensch seine eigene Antwort finden, und zwar immer wieder, im täglichen Leben. Denn für den Großteil von uns gibt es nicht DAS Aufwachen, sondern immer wieder EIN Aufwachen. EIN kleines Durchschauen des Schleiers, EIN weiteres Stück Selbsterkenntnis, EIN Stück größerer Selbstverantwortung, EIN weiterer Schritt auf dem Weg, erwachsen zu werden. Ein verantwortungsvoller erwachsener Mensch zu werden, ist ein Entwicklungsprozess.

Warum lügen wir?

Die meisten Menschen lügen, weil sie eben diesen Entwicklungsprozess nicht machen wollen, das nennt man dann Neurose.

Der Lügner fürchtet sich nicht vor dem Urteil der anderen und auch nicht vor der Strafe, die auf dieses Urteil folgt. Der Lügner hat sich schon selbst verurteilt und bestraft. (…) Wer lügt, versteckt sich vor seinem eigenen Urteil, seiner eigenen Bestrafung und seiner eigenen Verantwortung.

ebd, S.217

Tief im Inneren weiß der Mensch – mehr oder weniger, wenn er lügt, denn als Kind hat er ja gelernt: Du sollst nicht lügen. Dabei ist es interessant, dass wir unseren Kindern zwar sagen, dass sie nicht lügen sollen, aber – Hand aufs Herz – bringen wir Eltern, Lehrer, Religionsführer, Politiker, Medien… – bringen wir unseren Kindern wirklich bei, NICHT zu lügen?

Gerade hat man das Kind bei einer Lüge ertappt. Der Vater, ein moderner, aufgeschlossener Mensch, weiß, dass diese konkrete Lüge eigentlich völlig belanglos ist, aber es geht um den Gedanken der Lüge an sich. Der Vater lässt also das, was er gerade tut, stehen und liegen und setzt sich mit seinem Kind hin, um ihm in ernsten Worten zu erklären, warum man immer die Wahrheit sagen soll, was auch passiere, komme auch, was da wo…

Das Telefon klingelt. Das Kind, das Pluspunkte sammeln will, sagt: „Ich geh schon“ und läuft los, um das Telefon anzunehmen. Kurz darauf kommt es zurück. „Es ist der Versicherungsvertreter, Papa.“

„Ach, ausgerechnet jetzt? Sag ihm, dass ich nicht da bin.“

ebd., S.227

Die Wahrheit ist also relativ, subjektiv, veränderlich und ausschnitthaft. Und wir alle dehnen sie, vor allem, wenn wir EINE EINZIGE Geschichte erzählen. Die Wahrheit an sich können wir nur erfassen, wenn wir wirklich aufgewacht sind – wie Jesus, Buddha… Auf dem Weg dorthin können wir uns ihr nur annähern, indem wir versuchen VIELE Geschichten zu erzählen.

Aber was sind die Gründe dafür, dass wir lügen – auch wenn wir eigentlich vorhaben, aufzuwachen und uns zu einem bewussten Menschen zu entwickeln?

Als die zwei Hauptmotive, warum Menschen lieber andere und sich selbst belügen und sich damit selbst bestrafen, nennt Bucay: Macht und Angst.

Macht

Viele Menschen lügen, weil sie sich klein und ohnmächtig fühlen. Sie wären gerne größer, selbstbewusster, einflussreicher, sie hätten gerne Macht.

Es war einmal eine schäbige, kleine Spelunke in einem der lebendigsten Viertel der Stadt. In einer Ecke hämmerte ein betrunkener Klavierspieler einen langweiligen Blues. Plötzlich wurde die Tür aufgetreten. Der Klavierspieler unterbrach sein Spiel und alle Blicke richteten sich auf einen muskelbepackten, über und über tätowierten Riesen. „Wer von euch ist Peter?“, dröhnte es donnernd durch den Raum. Beklemmende Stille. Mit einem Satz schnappte sich der Riese einen Sessel und warf ihn mit voller Wucht gegen einen Spiegel und unterstrich damit eindrucksvoll seine Frage: „Wer ist Peter?“

Da erhob sich lautlos ein kleines, bebrilltes Männlein, ging auf den Riesen zu und flüsterte mit kaum wahrnehmbarer Stimme: „Ich, ich bin Peter!“

„Sieh mal an, du bist also Peter! Ich bin Jack, du verdammter Hurensohn!“

Was folgte, war ein Gemetzel. Mit einer einzigen Hand hob der Riese das Männlein in die Luft und schmetterte es gegen den anderen Spiegel. Anschließend verprügelte er das Männlein, dass ihm fast der Kopf wegflog, bis es schließlich mehr tot als lebendig am Boden lag. Mit den Worten „Merkt euch das: Niemand macht sich über Jack lustig!“, verließ der Riese den Raum.

Hilfsbereit setzten zwei Männer Peter auf, flößten ihm Whiskey ein und wischten ihm das Blut aus dem Gesicht. Da begann Peter zu lachen, erst leise, dann immer lauter, wobei er das Gesicht vor Schmerz verzog, weil einige Rippen gebrochen waren. „Dem hab ich’s aber gezeigt? Habt ihr’s alle gesehen? Dem hab ich’s gezeigt!“, lachte er laut.

Die Barbesucher schüttelten ungläubig den Kopf: „Was hast du ihm gezeigt, wann?“

„Ihr versteht wohl gar nichts. Gerade eben hab ich’s dem Idioten gegeben. Ihr habt’s doch alle gesehen. Ich…ha..ha…ha…! ich bin gar nicht Peter!“

nach: Jorge Bucay: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte, Fischer, 21.Aufl. 2022, 221

Das Problem dabei ist, dass uns natürlich allen klar ist, dass Peter sich seine Verletzungen selbst zugezogen hat. Äußere, körperliche Verletzungen sehen wir, aber wie steht’s mit den inneren, unsichtbaren, ganz abgesehen von den verpassten Wachstumschancen??

Angst

Es war einmal ein Mann in einem Dorf, der hatte eine seltene Augenkrankheit. Der Mann war während seiner letzten dreißig Jahre blind gewesen. Eines Tages kam ein berühmter Arzt ins Dorf, dem man seinen Fall vorlegte. Der Doktor versicherte, dass der Mann mit einer Operation sein Augenlicht wieder zurückgewinnen könne. Seine Frau, die sich alt und hässlich fand, war dagegen.

ebd., S.229

Menschen lügen, weil sie Angst vor Veränderung haben. Sie haben Angst, nicht mehr geliebt zu werden, nicht mehr wichtig zu sein. Angst vor Veränderung zu haben bedeutet letztlich, kein Vertrauen ins Leben zu haben, nicht mehr MIT dem Fluss des Lebens zu schwimmen, sondern zu versuchen stehen zu bleiben, den Status Quo zu erhalten. Der Schrecken, den wir kennen, ist uns allemal lieber als das unbekannte Paradies.

Auf dem Besuch in einer kleinen Stadt kam ein Mann an einem kleinen Laden vorbei. Hinter einer dunklen Fensterscheibe sah er eine leere Auslage, was ihn bewog näherzutreten. Drinnen sah er nichts als einen Notenständer und darauf eine kleine Tafel mit der Aufschrift: Wahrheitsladen.

Neugierig betrat er den Laden und sah sich suchend um. Hinter dem Tresen lächelte ihn eine freundliche Verkäuferin an: „Was suchen Sie, mein Herr? Welche Wahrheit kann ich Ihnen anbieten: die halbe Wahrheit, die relative Wahrheit, die statistische Wahrheit oder die ganze Wahrheit?“

Ohne zu zögern, antwortete der Mann: „Die ganze Wahrheit. Ich bin all die Lügen und Falschheiten leid. Ich habe die Verallgemeinerungen und Rechtfertigungen satt, die Täuschungen und den Betrug.“

„Gut“, sagte die Verkäuferin, „wenn Sie sie gleich mitnehmen, dann ist der Preis für die ganze Wahrheit, dass Sie nie mehr in Frieden leben werden.“

Da lief dem Mann ein Schauer über den Rücken, denn er hatte nicht erwartet, dass die reine Wahrheit so viel kosten könnte. „O“, stotterte er, „vielen Dank…entschuldigen Sie…“, er machte kehrt und verließ das Geschäft.

Er war ein bisschen traurig, als ihm bewusst wurde, dass er immer noch nicht bereit war für die absolute Wahrheit, dass er immer noch ein paar Lügen brauchte, bei denen er sich erholen konnte, ein paar Mythen und Schönfärbereien, in die er sich flüchten konnte, ein paar Ausreden, um sich nicht mit sich selbst konfrontieren zu müssen…

„Vielleicht ein andermal“, dachte er.

nach: Jorge Bucay: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte, Fischer, 21.Aufl. 2022, 257

Auf dem Weg dorthin helfen mir Geschichten, Geschichten wie die des Gestalttherapeuten Jorge Bucay.